Mai, 2011

Jonathan Franzen über Privatsphäre und öffentliche Sphäre

„Die vernetzte Welt eine Bedrohung der Privatsphäre? Sie ist das hässliche Schaustück einer auftrumpfenden Privatspäre.“ (J. Franzen)

Google Street View, der großangelegte Datenklau bei Sony, das Sammeln der iPhone-Bewegungsdaten durch Apple – kaum vergeht eine Woche ohne einen neuen Datenskandal, begleitet von einer öffentlichen Debatte um Privatsphäre und Datenschutz. Spätestens seitdem hierzulande die „datenschutzkritische Spackeria“ mit ihren provokanten Post-Privacy-Thesen auf der netzpolitischen Bühne aufgetaucht ist, ist eine neue Diskussion um das Spannungsfeld zwischen Privatspäre und Öffentlichkeit entbrannt.

Mich hat das an einen Essay des amerikanischen Romanciers Jonathan Franzen aus dem Jahr 1998 erinnert. Der Text „Riesenschlafzimmer“ (original „Imperial Bedroom“) erschien einige Jahre später in dem Band „Anleitung zum Alleinsein“ und scheint von zeitloser Aktualität zu sein, wenngleich Franzen im Vorwort einräumt, „Riesenschlafzimmer“ sei entstanden, „bevor John Ashcroft mit seiner offenkundigen Gleichgültigkeit gegenüber Persönlichkeitsrechten Justizminister wurde“. Dieser Einzelaspekt wiege jedoch geringer, als das dem Buch „zugrunde liegende Thema: die Schwierigkeit, in einer lärmenden und zerstreuenden Massenkultur Individualität und Vielschichtigkeit zu bewahren: die Frage, wie Alleinsein geht.“

Und so setzt sich Franzen, bekannt für seine schneidenden und niemals polemischen Gesellschaftsanalysen, in „Riesenschlafzimmer“ mit der überraschenden Forderung nach mehr öffentlichem Raum auseinander. Nicht die obsessiv verfochtene Privatspäre sei bedroht („Wir ertrinken geradezu in Privatspäre“), sondern vielmehr der öffentliche Raum – durch das permanente, ungenierte Hineintragen des Privaten. Ein wirklich öffentlicher Raum sei der, „wo jeder Bürger willkommen und das rein Private entweder ausgeschlossen oder zurückgedrängt ist.“ – wie bspw. beim Besuch eines Kunstmuseums, wo dreister Konsumismus absent, Anstand und Stille hingegen vorgeschrieben seien. Stattdessen jedoch werde man in der Öffentlichkeit fortlaufend mit dem Privaten belästigt, vom Redenschwinger im Bus, über die Handy-Telefonierer in der Supermarktschlange bis hin zu massivsten Entblößungen im Fernsehen, die uns noch im Wohn- und Schlafzimmer ereilen, wo das Fernsehen freilich selbst zur Schlafzimmerbühne werde.

Gleichzeitig lenkt Franzen den Blick darauf, wie Menschen in den westlichen Industrienationen heute in der Regel leben können. Es möge zwar sein, dass sich Regierungen in manchen Bereichen stärker einmischten als das noch vor hundert Jahren der Fall gewesen sei. Nichtsdestotrotz seien wir den Einmischungen der damaligen Kleinstadtschnüffeleien nicht mehr annähernd so stark ausgesetzt, wie die Generationen vor uns. Vielmehr hätten sich die Möglichkeiten privater Rückzugsräume vervielfacht. Selbst die Fortbewegungsmittel seien weitgehend privat. Kurzum: Das historisch auf Louis Brandeis zurückgehende „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“, werde insgesamt „nicht ausgehöhlt, es explodiert“.

Das Öffentliche ist das Gemeinsame und das Private das Eigene. Beide bedingen sich, beide brauchen einander in ausgeglichener Weise und zwischen beiden verläuft dennoch eine sensible Grenze. „Deshalb ist die Verletzung des öffentlichen Raums, vom Empfinden her, der Verletzung der Privatsphäre ganz ähnlich“, findet Franzen.

Und deshalb ist das Bedürfnis nach Öffentlichkeit ebenso grundlegend wie das nach Privatsphäre, ohne die die Entwicklung von Individualität nicht gelingt. Franzen meint jedoch stets eine Öffentlichkeit, in der das Private sich zurücknimmt, und nicht eine Öffentlichkeit, derer man sich im Übermaß bedient, um persönliche Eitelkeit zu nähren.



Kleine Hommage an St-Paul

Idee und Bildbearbeitung: Manuela Maurer
Fotos: Martina Maierhofer
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Vom Umgang mit ‚Rechtsschändern‘

In der Debatte um die Tötung von Terroristenführer Osama bin Laden und inwieweit diese mit einer christlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sei, wird immer wieder auf den Widerstand gegen das Naziregime und das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 verwiesen. Tenor: Man habe es sich damals nicht leicht gemacht, aber schlussendlich die Ermordung für notwendig und legitim erachtet. Deshalb ist die Tötung bin Ladens erst recht legitim.

So diskutiert etwa Jörg Kürschner, MDR-Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio, in seinem Kommentar die Frage: „Ist der Tyrannenmord an Osama Bin Laden vertretbar?“ und verweist dabei auf das Beispiel des Hitler-Attentats: „Der Kreisauer Kreis um Stauffenberg hat versucht, diesen Tyrannen zu ermorden“.

Tatsächlich waren es die führenden Köpfe des sog. Kreisauer Kreises, insbesondere Helmuth James von Moltke, die ein Attentat ablehnten. Erst nach der Verhaftung Moltkes im Januar 1944, infolge derer sich der Kreisauer Kreis faktisch auflöste, schlossen sich einige Kreisauer der Stauffenberg-Gruppe an. Moltke, hochgebildet und tiefreligiös, Jurist und speziell Völkerrechtler, lehnte im Gegensatz etwa zu dem Protestanten Dietrich Bonhoeffer einen gewaltsamen Putsch ab, da er einerseits die Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende sah und andererseits überzeugt davon war, dass gerade „Gewalttätigkeit das Grundübel nicht beheben“ könne (vgl. dazu Beate Ruhm von Oppen, Briefe an Freya 1939 – 1945, Biographie, S. 53).

Der Kreisauer Kreis war eine Gruppe des bürgerlichen Widerstands, der auch wichtige Kirchenmänner angehörten und die sich intensiv und detailliert mit der politisch-gesellschaftlichen Neuordnung nach der Diktatur, von deren absehbarem Zusammenbruch sie fest überzeugt waren, befassten. „Vor allem anderen war ihnen die Erneuerung der moralisch-ethischen Maßstäbe wichtig. Sie waren sich darin einig, daß ohne metaphysische Dimension weder das Individuum noch die Nation leben könnte.“ fasst Marion Gräfin Dönhoff die Gesinnung des Kreisauer Kreises zusammen (in: „Zivilisiert den Kapitalismus“, S. 205). Wie zukunftsweisend die Kreisauer dachten, zeigt sich bereits in dem großen Stellenwert, den sie – schon damals – Europa als einem zukünftig föderalen Europa mit einheitlicher Währung beimaßen.

Ein weiteres wesentliches Thema, das die Kreisauer für die Neuordnung der Gesellschaft erörterten, war die Bestrafung von Rechtsschändern (statt: „Verbrechern“). In einem 1943 entworfenen Dokument hielten sie fest:

„Als Rechtsschänder ist zu bestrafen, wer wesentliche Grundsätze des göttlichen oder natürlichen Rechts, des Völkerrechts oder des in der Gemeinschaft der Völker überwiegend übereinstimmenden positiven Rechts in einer Art bricht, die erkennen läßt, daß er die bindende Kraft dieser Rechtssätze freventlich mißachtet. Rechtsschänder ist auch, wer den Befehl zu einer rechtsschändenden Handlung gibt, in verantwortlicher Stellung dazu auffordert oder allgemeine Lehren oder Weisungen rechtsschändender Art erteilt. […]“ (vollständig nachzulesen hier).

Diese vom Kreisauer Kreis erdachten Grundsätze lenken den Blick durchaus wieder kritisch auf Obama, wenn er tatsächlich den Befehl zur Exekution bin Ladens gegeben hat.

„Bei einer auf Befehl begangenen Rechtsschändung ist der Befehl kein Strafausschließungsgrund es sei denn, daß es sich um eine unmittelbare Bedrohung von Leib oder Leben des Täters handelt oder ein sonstiger Zwang vorliegt, der nach den näheren Umständen die Befolgung des Befehls nicht als offenkundig unsittlich erscheinen läßt. “

Den aktuellen Presseberichten zufolge, scheint festzustehen, dass bin Laden entgegen der ersten Darstellungen der Amerikaner doch unbewaffnet war und auch keine menschlichen Schutzschilde eingesetzt hat. Zu diskutieren wäre danach allenfalls der „sonstige Zwang“ als Rechtfertigungsgrund für die Tötung bin Ladens und dazu ist deren genauer Ablauf von entscheidender Bedeutung.

So einfach lässt sich der „Tyrannenmord“ also nicht rechtfertigen – jedenfalls nicht, wenn man sich auf den Kreisauer Kreis beziehen will.