Juni, 2011

Dem Zauberer aufs Dach gestiegen

Vor fünf Jahren wurde das neue Thomas-Mann-Haus im Münchner Herzogpark eingeweiht. Ein Nachruf.

Foto: Das neue Thomas-Mann-Haus, aufgenommen im Mai 2011

„Wir haben einen Blick auf die Poschi geworfen, wo viele Schutthaufen, viel Material herumliegt, wegen starker innerlicher Veränderung“, schrieb Hedwig Pringsheim 1937 an ihre Tochter Katja, die mit ihrer Familie nach einer überstürzten Flucht vor den Nationalsozialisten schon seit vier Jahren im Schweizer Exil lebte. Und nicht nur Katja tat sich zeit ihres Lebens schwer mit dieser „Münchner Barbarei“ – mit Enteignung und Ausbürgerung durch ein Regime, das ihrem Mann und ihr selbst das kritische Denken verbieten wollte und den Glanz der jüdisch stämmigen Familie Pringsheim, einem der gesellschaftlichen Zentren im München der ersten Jahrhunderthälfte, vernichtete.

In der Poschingerstraße 1 erlebten die Manns schon wenige Wochen nach ihrem Einzug die entbehrungsreiche Zeit des ersten Weltkriegs mit, dort schrieb Thomas Mann den Zauberberg, die ersten beiden Bände der JosefsTrilogie, die Betrachtungen eines Unpolitischen. Das Haus war stets Ort eines lebendigen kulturellen Austauschs. Die Hauptmanns, die Hesses, „die Walterschen“ (die Familie des Dirigenten Bruno Walter), der Germanist Ernst Bertram und die Schrifsteller respektive Kunsthistoriker Bruno Frank und Josef Ponten, um nur wenige zu nennen, waren regelmäßige Gäste bei den Manns. Es war auch der Ort, an dem die beiden jüngsten Kinder, Michael und Elisabeth, zur Welt kamen und an dem die Älteren, Klaus und Erika, zusammen mit der Herzogpark-Clique ihr schauspielerisches Talent entdeckten, das sie dann im  „Laienbund deutscher Mimiker“, einer selbsterkorenen jungen Theatertruppe, voll kreativen Übermuts auslebten. Hier verlobten sich Klaus Mann und Pamela Wedekind, Erika Mann und Gustaf Gründgens und dies war auch der Ort, an dem Klaus und Gustaf, Erika und Pamela ihre wechselseitige Zuneigung nicht verheimlichten.

Befremdet und wie ein Gast im eigenen Haus mag sich Klaus Mann gefühlt haben, als er zwei Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs als amerikanischer Soldat sein Elternhaus wieder aufsuchte und den von Bomben stark in Mitleidenschaft gezogenen Bau fast leer vorfand. In seinem ehemaligen Zimmer im Dachgeschoß stieß er auf eine Stenotypistin, die sich dort notdürftig eingerichtet hatte. Von ihr erfuhr er, dass das Haus den Nazis und ihrer Rasseorganisation Lebensborn in den Jahren 1937-39 als Stätte für die Zeugung arischen Nachwuchses gedient hatte. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte war, dass hier nach einigen Reparaturmaßnahmen in den ersten Nachkriegsjahren einmal bis zu 50 Personen – überwiegend osteuropäische Emigranten inklusive der überlebensnotwendigen Ziegen, Schweine und Pferde – gleichzeitig leben würden.


Was soll aus dem Grundstück werden?

Eins dürfte also feststehen: Dieser Ort bietet überreichen Stoff für ein Museum, das über die Funktion einer Weihestätte für den Schriftsteller Thomas Mann und dessen Werk bei weitem hinausginge. Es ist eine Stätte die literarisch, musikalisch, schauspielerisch aber auch historisch vielfältigste Anknüpfungspunkte bietet. An diesem Ort ließen sich durch die Familie Mann hindurch wie in einem Brennglas zentrale – wenn auch nicht immer angenehme –  Stationen der Geschichte Münchens facettenreich widerspiegeln.

Es fehlte in der Vergangenheit auch gewiss nicht an Freunden und Förderern, die gemeinsam mit Elisabeth Mann-Borgese aus der „Poschi“  gerne wieder einen öffentlichen Ort der Erinnerung, einen Treffpunkt für literarisch Interessierte oder was auch immer von nur ansatzweise kulturell-gemeinnützigem  Anspruch gemacht hätten. Entgegen den Befürchtungen der Stadt München wären auch sicher die Besucher nicht ausgeblieben. Die Thomas-Mann-Allee ist heute Abschnitt einer der Haupt-Ausflugsstrecken entlang der Isar nach Norden. Dem Ansinnen der Förderer wurde jedoch im August 2001 von der Stadt aus verschiedenen, in letzter Konsequenz wohl finanziellen Gründen  eine Absage erteilt.


Sterile Perfektion ohne Fleisch und Blut

Stattdessen wurde das Grundstück 2004 privat an den Geschäftsführer der Investment-Bank Goldman Sachs im deutschsprachigen Raum verkauft. Allerdings mit einer strengen Auflage für das Neubau-Vorhaben. In den Referenzen des beauftragten Architektenbüros Dibelius, Hamburg,  liest sich das so:

 

2002 – 2005  Thomas Mann Villa, München
Neubau einer Villa mit 3 Gäste-Appartements, Innen- und Außenschwimmbad, Wellnessbereich und Tiefgarage unter der Auflage, die Gebäudehülle der ehemaligen Villa Thomas Manns zu rekonstruieren

Ein im Innenbereich also gänzlich modern gestalteter Neubau auf Luxus-Niveau, von Seiten der Stadt allerdings gekoppelt an die mehr oder weniger explizite Forderung, der Käufer möge doch seiner mit dem Erwerb des Grundstücks untrennbar verbundenen kulturellen Verantwortung wenigstens insofern gerecht werden, als er die Außenfassade der alten Thomas-Mann-Villa rekonstruiere.

Dies ist auch geschehen und so steht es nun seit sechs Jahren wieder, das Abziehbild der alten „Poschi“, gut sichtbar für alle Sonntagsflanierer und Radfahrer zwischen Isarufer und Herzogparkviertel. Strahlend weiß , die kleinen Fehler in den Proportionen des Vorbildes korrigiert, der Gartenbereich von einem Sichtschutz umgeben, der Eingangsbereich mit einer Kamera überwacht. Ein imposanter Bau an exponierter Stelle. Und doch: es ist sterile Perfektion ohne Fleisch und Blut, was den Passanten hier an sonnigen Tagen blendet und bei Regen trübsinnig stimmt.


Foto: Das neue Thomas-Mann-Haus, aufgenommen im Mai 2011


„Auf eigene Art …“

… liest man als Überschrift auf der kleinen Gedenktafel aus Plexiglas, die an der Südwestecke der Grundstücksumfriedung über die Geschichte des Ortes Auskunft gibt. Es ist ein Zitat Thomas Manns  – „Auf eigene Art einem Beispiel folgen, das ist Tradition“ -,  das sich die neuen Grundstückseigner zum Motto ihres besonderen Umgangs mit Tradition gewählt haben: Keine museale Weihestätte, kein Literaturhaus, keine Bibliothek, kein Thomas-Mann Studienzentrum sollte hier entstehen – nein, auf andere Art sollte dem prominenten Vorbesitzer hier begegnet werden.

Zur Einweihung des Hauses fand  im Mai 2006 ein Kulturabend in Form einer Ausstellung zeitgenössischer Werke der bildenden Kunst statt, betreut von Christoph Schreier, dem Direktor des Bonner Kunstmuseums, das sich der Vermittlung moderner Kunst nach 1945 verschrieben hat. Eine der Schwerpunktsetzungen des Bonner Hauses bilden die Ausdrucksformen zeitgenössischer Malerei; wichtige zusätzliche Akzente werden durch Präsentationen und Ankäufe im Bereich der Fotografie und Medienkunst gesetzt. Wer nun zum Einweihungsfest nicht geladen war, der konnte und kann sich auch heute noch ein Bild machen: In der begleitenden Publikation „Auf eigene ART. Das neue Thomas-Mann-Haus am Münchner Herzogpark“ (München 2006) präsentiert Schreier die Werke zwölf hier ausstellender zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler.

Sieht man sich den Begleitband näher an, so kann man jedoch eines festhalten: In der Münchner Ausstellung fand keine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit Leben und Werk Thomas Manns und seiner Familie statt. Nicht etwa weil die gezeigten Werke einem qualitativen Vergleich nicht standhielten. Ein solcher wäre angesichts der Ferne der beiden Welten ohnehin wenig sinnvoll. Vielmehr bereitet schon die Abkehr vom Buch und die ostentative Hinwendung zu demjenigen Ausdrucksmedium, das Thomas Mann Zeit seines Lebens am fernsten gestanden hat, nämlich die bildende Kunst, und noch dazu die zeitgenössische, den Boden für einen ungezügelten Wildwuchs subjektiver Assoziationen des Betrachters.


Kein Dialog mehr

Auf welche Art der Auseinandersetzung mit Tradition zielt man eigentlich ab, wenn man einem der letzten großen Erzähler der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Werken begegnen will, die das Diskursive gerade ad absurdum führen? So etwa in der grünen Farbexplosion Katharina Grosses, die dem Besucher als „sinnliche Provokation“ gleich im Eingangsbereich entgegenschlägt; oder in Olav Christopher Jenssens Palindromen, in denen ein „semantischer Super-GAU“ (Schreier, S. 54 f.) inszeniert wird: Den ins Bildmedium integrierten Buchstabenfolgen ist jeder überindividuell verbindliche Sinn abhanden gekommen. Ein wie auch immer gearteter Dialog zwischen alter und neuer Sphäre kann hier also gar nicht mehr stattfinden und es spricht vieles dafür, dass er das auch nicht soll.

Die Bonner Fotografin Renate Brandt, bekannt für ihre sehr persönlichen Portraits deutschsprachiger Schriftsteller, ist mit nur einem Exponat vertreten: Mann in Grau (2001) zeigt einen rauchenden Mann mittleren Alters, der sich auf einem Stuhl sitzend vom Betrachter ab und der ornamentalen Tapete im Hintergrund zuwendet. Nach reiflicher Überlegung habe man sich  – so Schreier – dagegen entschieden, Portraits konkreter Persönlichkeiten von Dichtern und Essayisten „unter das Dach eines der ‚Überväter‘ der deutschen Literatur zu holen und damit – möglicherweise – eine Wirkungsgeschichte nahe zu legen, die im Einzelfall gar nicht stichhaltig gewesen wäre“. Stattdessen also eine Rückenfigur, „anonym“ und „unkommunikativ auf die eigene Welt bezogen“ (S. 63). Einen Dialog mit der Familie Mann kann und will freilich auch sie nicht eröffnen. Was bleibt, ist der Eindruck, dass es sich hier im besten Fall noch um eine Verlegenheitslösung handelt.

Vieles scheint dafür zu sprechen, dass jenem Kulturabend im Mai 2006 vor allem eine katalysatorische Funktion zukam. Schreiers Deutungen der Exponate in ihrem Ausstellungskontext lassen kaum Zweifel daran, dass hier in letzter Konsequenz der Geist des prominenten Vorbesitzers ausgetrieben werden soll. Die radikalsten künstlerischen Antworten auf den „noch immer auratischen Ort“ (S. 42) entsprechen durchweg der Killerphrase des ‚na und…‘, die der Pubertierende trotzig den Eltern entgegen schleudert und damit jeder Art von Verständigung die Grundlage entzieht.


‚Mit Verlaub, wir haben grade besseres zu tun!‘

Statt dessen wird Raum geschaffen für die Selbstinszenierung einer „genuss- und konsumorientierten jungen Generation zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ (S. 50). In Roland Schapperts Video-Beitrag Bar/Vegetation, sieht Schreier einen „idealen Spiegel des alten und des neuen Thomas-Mann-Hauses und seiner Bewohner“: „Inzwischen hat eine neue, ökonomisch erfolgreiche Generation Einzug in die Villa am Herzogpark gehalten und ihr Lebensstil ist demjenigen der sich in Schapperts Video andeutet, vielleicht gar nicht so fern“ (S. 51). Wären Thomas Mann und die Seinen zum Einweihungsabend ihrer soeben wiedererstandenen alten „Poschi“ erschienen, dann hätten sie vermutlich folgendes zu hören bekommen: ‚Bleibt lieber draußen, ihr versteht uns sowieso nicht!‘ (Grosses Farbexplosion), ‚Sprecht uns  bloß nicht an!‘ (Brands Mann in Grau) und ‚Jetzt wohnen wir hier und wir haben – mit Verlaub – gerade besseres zu tun‘ (Schapperts junges Paar).

Schreiers Interpretationen der weniger radikalen Antworten hingegen wirken überwiegend  harmlos, ja teils an den Haaren herbeigezogen, etwa wenn er bei Gudrun Kemsa einen „stimmungshaften Verweis“ auf Thomas Manns „berühmte Erzählung“ Tonio Kröger diagnostiziert, den die Künstlerin bei der Konzeption der Arbeit „sicher nicht intendierte“, der im Kontext der Ausstellung aber „unwillentlich wirksam wird“ (S. 47). Und in Dieter Mammels Gemälde Der Spaziergang ein Abbild der autoritären Vater-Kind Beziehung zu sehen, wie sie auch die Lebenswirklichkeit des Patriarchen Thomas Mann und seiner Familie kennzeichnete, ist in etwa so originell, wie wenn man in einer modernen Soap ein Liebespaar ausfindig machte.


Wie hoch ist der Preis?

Nun lässt sich über Geschmack bekanntlich streiten. Gefallen an den Provokationen moderner Kunst einerseits wie auch am Werk eines klassischen Schriftstellers andererseits kann man weder sich selbst noch anderen verordnen. Was Thomas Mann betrifft, so gab und gibt es sicherlich immer noch Generationen von Lesern, die nie einen wirklichen Zugang zu seinem Werk gefunden haben und es steht zu befürchten, dass unter den nachwachsenden Generationen die Zahl derer eher noch steigen wird, die sich einer Auseinandersetzung mit der scheinbar fremden Welt eines literarischen Klassikers gar nicht mehr stellen wollen. Gerade materielle Formen der Erstbegegnung können hier aber oft sehr inspirierend wirken, wenn sie nur gut gemacht sind. In Schreiers Ausstellung sind wir Thomas Mann und den Seinen – und damit auch unserer eigenen Vergangenheit – jedenfalls nicht begegnet. Sie hält uns allenfalls einen Spiegel vor. Was wir da sehen? Eine Fassade. Und dahinter? Den Machbarkeitswahn und die autistische Selbstbezogenheit einer unerwachsenen Gesellschaft. Zu Recht muss man hier fragen, ob es vernünftig ist, die Verantwortung für kulturelles Erbe an Privatpersonen zu delegieren und welcher Preis im Zweifelsfall dafür zu bezahlen ist.

Der Kulturabend vom Mai 2006 scheint jedenfalls einmalig geblieben zu sein. Der Begleitband ist inzwischen vergriffen und wird nicht mehr aufgelegt.

Wer auf eigene Art einem Beispiel folgt, kann starke Formen der Rezeption begründen. Es kann aber auch schiefgehen. Dann hat sich der Genius des Vorbildes am Ende als stärker erwiesen.