Geschichte

Auf den Spuren der Gräfin

„Ich muss an die letzte Konfirmation in der kleinen Dorfkirche in Quittainen denken. Da standen acht Mädchen in weißen Kleidern und sechs Jungen im ersten blauen Anzug. Ich sah sie nur durch einen Schleier, denn mir wurde plötzlich ganz klar, daß keiner dieser Jungen – wie doch alle ihre Väter – noch einmal vor diesem Altar stehen würden und dass es das Los der meisten dieser kleinen Mädchen sein werde, allein zu bleiben. […] Und draußen vor der Kirche lagen Soldaten in der Sonne und warteten. Warteten, bis sie schließlich am 21. Juni zum Marsch gegen Rußland antreten. Seither nimmt man eigentlich immerfort Abschied, nicht nur von Menschen – von allem, was man liebt: den Wegen, die wir oft geritten sind, den Bäumen, unter denen wir als Kinder spielten, der Landschaft mit ihren Farben, Gerüchen, Erinnerungen.“

(Kwitajny im Juni 2011)

Dies hielt die 31-jährige Marion Dönhoff 1941 während eines mehrtägigen Ritts durch ihre Heimat Masuren fest. Im Januar 1945 wird Quittainen der Ort sein, von dem aus die junge Gräfin und letzte Gutsherrin des Dönhoffschen Besitzes in Ostpreußen nachts, bei über 20 Grad minus, mit ihren Leuten die Flucht vor den Russen gen Westen antritt.


Aus Quittainen wurde Kwitajny

Die kleine, 1714 – 1719 errichtete Kirche gibt es immer noch. Der Ort heißt heute Kwitajny, so wie aus Elbing Elblag, aus Marienburg Marbork und aus Allenstein Olsztyn geworden ist. Das Gut in Quittainen existierte schon zur Ordenszeit im 13. Jahrhundert. Gutsanlage und Gutsdorf zählen zu den ältesten Dörfern in diesem Gebiet und gelangten 1744 in den Besitz der Grafen von Dönhoff. Herrenhaus und Dorf – nicht jedoch zahlreiche der damaligen Bewohnerinnen und Bewohner – haben den Krieg fast unversehrt überstanden, während der Dönhoffsche Hauptsitz, Schloss Friedrichstein in der Nähe von Königsberg, dem heute russischen Kaliningrad, von der Roten Armee restlos zersört wurde.

„Beachtenswert ist die sehr gut erhaltene Architektur des Gutsdorfs. Es sind schöne eingeschossige Bauten aus rotem Backstein mit Satteldach […].Vor den Häusern befinden sich Naturteiche und in der Nähe des Herrenhauses die […] Barockkirche. Der gesamte Gutskomplex, eingebettet in einem weiten Tal zwischen Wiesen und Feldern, hat außergewöhnlich gut die Merkmale einer historischen Dorflandschaft beibehalten, die durch den Großgrundbesitz geprägt wurde.“ (in: Schlösser und Gutshäuser im ehemaligen Ostpreußen, Malgorzata Jackiewicz-Garniec und Miroslaw Garniec, S. 81).


Vieles ist noch erhalten

Wer Kwitajny besucht, wird überrascht sein von der schlichten und zugleich stolzen Präsenz des Dorfes. Seine Geschichte zeigt der Ort mit einer ähnlich hochmütigen Bescheidenheit wie Marion Dönhoff die ihre. Lange nicht jeder Reiseführer weist überhaupt auf Kwitajny hin und im Dorf gibt es weder „Hinweisschilder“ noch öffentlich-museale Einrichtungen. Nein, der Ort ist einfach da, in einer melancholisch-erhabenen Mischung aus gestern und heute. Neben der kleinen Kirche ist noch einiges mehr des historischen Gutsdorfs erhalten. Das ehemalige Herrenhaus wurde privat saniert, das daneben liegende ehemalige Rentamt, in dem sich Rentmeisterin Marion Dönhoff in der Zeit des Zweiten Weltkriegs einrichtete, ist hingegen verfallen, jedoch noch vorhanden. Ebenfalls verfallen, aber noch zugegen, ist die große landwirtschaftliche Gutsanlage mit den ehemaligen Stallungen und Speichern – umrahmt mit Verbotsschildern: Kein Zutritt, Einsturzgefahr. Von der Anlage geht eine gespenstische Atmosphäre aus, die von der friedlich anmutenden Stimmung des Dorfes mit seinen Teichen wieder aufgefangen wird.

(Kwitajny im Juni 2011)
Umgeben ist der Ort von weiten Ländereien, sicherlich ebenfalls alle ehemals unter Dönhoffscher Leitung. Marion Dönhoff, tüchtig wie eh und je, war damals von früh bis spät auf den Beinen und kümmerte sich um die einzelnen Güter, Werkstätten, Feld- und Waldwirtschaft. Innerlich sieht man die junge Gutsherrin auf ihrem Pferd über die Felder reiten. „Wer je auf dem Rücken eines edlen Pferdes im Slalom um die aufgestellten Getreidehocken über die herbstlichen Stoppelfelder galoppierte, der wird nie etwas anderes seine Heimat nennen als Ostpreußen.“, so die Gräfin später.


Im Chaos der Kriegsfurie

Doch man stellt sich stets auch die sich zusammen rottenden, verzweifelten Menschen in jener Nacht vor, als sie einen Treck bilden und das Dorf im Chaos der Kriegsfurie verlassen mussten. Man schaut eine aus dem Ort hinaus führende Straße entlang und sieht sie vor sich: die Wagen, Pferde und bepackten Menschen mit Handwagen, die „ohne Ziel und Führung hinaus in die Nacht“ ziehen. Die Haustüren bleiben unverschlossen, die Tore der Stallungen geöffnet, damit das Vieh hinaus und in den Speichern Futter finden kann. Wenige Kilometer entfernt sind schon die Kanonendonner der Roten Armee zu hören.

Tief berührt, ja demütig, blinzelt man wieder in die Sonne, die dann und wann zwischen den masurischen Wolken über dem heute so friedlichen, bescheidenen – und doch wissenden – Kwitajny liegt.

1962 schreibt Marion Dönhoff:

„Ich muss noch einmal – zum letzten Mal – hier die Namen der Gutshöfe niederschreiben, alle diese schönen Namen, die nun keiner mehr nennt, damit sie wenigstens irgendwo verzeichnet sind: Quittainen, Comthurhof, Pergusen, Weinings, Hartwigs, Mäken, Skolmen, Lägs, Amalienhof, Schönau, Groß Thierbach, Klein Thierbach, Nauten, Canditten, Einhöfen“.

Quittainen  – Kwitajny sei hiermit einmal mehr genannt.


Literatur

  • Marion Gräfin Dönhoff: Namen die keiner mehr nennt.
  • Malgorzata Jackiewicz-Garniec und Miroslaw Garniec: Schlösser und Gutshäuser im ehemaligen Ostpreußen.
  • Alice Schwarzer: Marion Dönhoff. Ein widerständiges Leben.
  • Tatjana Gräfin Dönhoff und Jo Röttger: Weit ist der Weg nach Westen. Auf der Fluchtroute von Marion Gräfin Dönhoff.


Dem Zauberer aufs Dach gestiegen

Vor fünf Jahren wurde das neue Thomas-Mann-Haus im Münchner Herzogpark eingeweiht. Ein Nachruf.

Foto: Das neue Thomas-Mann-Haus, aufgenommen im Mai 2011

„Wir haben einen Blick auf die Poschi geworfen, wo viele Schutthaufen, viel Material herumliegt, wegen starker innerlicher Veränderung“, schrieb Hedwig Pringsheim 1937 an ihre Tochter Katja, die mit ihrer Familie nach einer überstürzten Flucht vor den Nationalsozialisten schon seit vier Jahren im Schweizer Exil lebte. Und nicht nur Katja tat sich zeit ihres Lebens schwer mit dieser „Münchner Barbarei“ – mit Enteignung und Ausbürgerung durch ein Regime, das ihrem Mann und ihr selbst das kritische Denken verbieten wollte und den Glanz der jüdisch stämmigen Familie Pringsheim, einem der gesellschaftlichen Zentren im München der ersten Jahrhunderthälfte, vernichtete.

In der Poschingerstraße 1 erlebten die Manns schon wenige Wochen nach ihrem Einzug die entbehrungsreiche Zeit des ersten Weltkriegs mit, dort schrieb Thomas Mann den Zauberberg, die ersten beiden Bände der JosefsTrilogie, die Betrachtungen eines Unpolitischen. Das Haus war stets Ort eines lebendigen kulturellen Austauschs. Die Hauptmanns, die Hesses, „die Walterschen“ (die Familie des Dirigenten Bruno Walter), der Germanist Ernst Bertram und die Schrifsteller respektive Kunsthistoriker Bruno Frank und Josef Ponten, um nur wenige zu nennen, waren regelmäßige Gäste bei den Manns. Es war auch der Ort, an dem die beiden jüngsten Kinder, Michael und Elisabeth, zur Welt kamen und an dem die Älteren, Klaus und Erika, zusammen mit der Herzogpark-Clique ihr schauspielerisches Talent entdeckten, das sie dann im  „Laienbund deutscher Mimiker“, einer selbsterkorenen jungen Theatertruppe, voll kreativen Übermuts auslebten. Hier verlobten sich Klaus Mann und Pamela Wedekind, Erika Mann und Gustaf Gründgens und dies war auch der Ort, an dem Klaus und Gustaf, Erika und Pamela ihre wechselseitige Zuneigung nicht verheimlichten.

Befremdet und wie ein Gast im eigenen Haus mag sich Klaus Mann gefühlt haben, als er zwei Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs als amerikanischer Soldat sein Elternhaus wieder aufsuchte und den von Bomben stark in Mitleidenschaft gezogenen Bau fast leer vorfand. In seinem ehemaligen Zimmer im Dachgeschoß stieß er auf eine Stenotypistin, die sich dort notdürftig eingerichtet hatte. Von ihr erfuhr er, dass das Haus den Nazis und ihrer Rasseorganisation Lebensborn in den Jahren 1937-39 als Stätte für die Zeugung arischen Nachwuchses gedient hatte. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte war, dass hier nach einigen Reparaturmaßnahmen in den ersten Nachkriegsjahren einmal bis zu 50 Personen – überwiegend osteuropäische Emigranten inklusive der überlebensnotwendigen Ziegen, Schweine und Pferde – gleichzeitig leben würden.


Was soll aus dem Grundstück werden?

Eins dürfte also feststehen: Dieser Ort bietet überreichen Stoff für ein Museum, das über die Funktion einer Weihestätte für den Schriftsteller Thomas Mann und dessen Werk bei weitem hinausginge. Es ist eine Stätte die literarisch, musikalisch, schauspielerisch aber auch historisch vielfältigste Anknüpfungspunkte bietet. An diesem Ort ließen sich durch die Familie Mann hindurch wie in einem Brennglas zentrale – wenn auch nicht immer angenehme –  Stationen der Geschichte Münchens facettenreich widerspiegeln.

Es fehlte in der Vergangenheit auch gewiss nicht an Freunden und Förderern, die gemeinsam mit Elisabeth Mann-Borgese aus der „Poschi“  gerne wieder einen öffentlichen Ort der Erinnerung, einen Treffpunkt für literarisch Interessierte oder was auch immer von nur ansatzweise kulturell-gemeinnützigem  Anspruch gemacht hätten. Entgegen den Befürchtungen der Stadt München wären auch sicher die Besucher nicht ausgeblieben. Die Thomas-Mann-Allee ist heute Abschnitt einer der Haupt-Ausflugsstrecken entlang der Isar nach Norden. Dem Ansinnen der Förderer wurde jedoch im August 2001 von der Stadt aus verschiedenen, in letzter Konsequenz wohl finanziellen Gründen  eine Absage erteilt.


Sterile Perfektion ohne Fleisch und Blut

Stattdessen wurde das Grundstück 2004 privat an den Geschäftsführer der Investment-Bank Goldman Sachs im deutschsprachigen Raum verkauft. Allerdings mit einer strengen Auflage für das Neubau-Vorhaben. In den Referenzen des beauftragten Architektenbüros Dibelius, Hamburg,  liest sich das so:

 

2002 – 2005  Thomas Mann Villa, München
Neubau einer Villa mit 3 Gäste-Appartements, Innen- und Außenschwimmbad, Wellnessbereich und Tiefgarage unter der Auflage, die Gebäudehülle der ehemaligen Villa Thomas Manns zu rekonstruieren

Ein im Innenbereich also gänzlich modern gestalteter Neubau auf Luxus-Niveau, von Seiten der Stadt allerdings gekoppelt an die mehr oder weniger explizite Forderung, der Käufer möge doch seiner mit dem Erwerb des Grundstücks untrennbar verbundenen kulturellen Verantwortung wenigstens insofern gerecht werden, als er die Außenfassade der alten Thomas-Mann-Villa rekonstruiere.

Dies ist auch geschehen und so steht es nun seit sechs Jahren wieder, das Abziehbild der alten „Poschi“, gut sichtbar für alle Sonntagsflanierer und Radfahrer zwischen Isarufer und Herzogparkviertel. Strahlend weiß , die kleinen Fehler in den Proportionen des Vorbildes korrigiert, der Gartenbereich von einem Sichtschutz umgeben, der Eingangsbereich mit einer Kamera überwacht. Ein imposanter Bau an exponierter Stelle. Und doch: es ist sterile Perfektion ohne Fleisch und Blut, was den Passanten hier an sonnigen Tagen blendet und bei Regen trübsinnig stimmt.


Foto: Das neue Thomas-Mann-Haus, aufgenommen im Mai 2011


„Auf eigene Art …“

… liest man als Überschrift auf der kleinen Gedenktafel aus Plexiglas, die an der Südwestecke der Grundstücksumfriedung über die Geschichte des Ortes Auskunft gibt. Es ist ein Zitat Thomas Manns  – „Auf eigene Art einem Beispiel folgen, das ist Tradition“ -,  das sich die neuen Grundstückseigner zum Motto ihres besonderen Umgangs mit Tradition gewählt haben: Keine museale Weihestätte, kein Literaturhaus, keine Bibliothek, kein Thomas-Mann Studienzentrum sollte hier entstehen – nein, auf andere Art sollte dem prominenten Vorbesitzer hier begegnet werden.

Zur Einweihung des Hauses fand  im Mai 2006 ein Kulturabend in Form einer Ausstellung zeitgenössischer Werke der bildenden Kunst statt, betreut von Christoph Schreier, dem Direktor des Bonner Kunstmuseums, das sich der Vermittlung moderner Kunst nach 1945 verschrieben hat. Eine der Schwerpunktsetzungen des Bonner Hauses bilden die Ausdrucksformen zeitgenössischer Malerei; wichtige zusätzliche Akzente werden durch Präsentationen und Ankäufe im Bereich der Fotografie und Medienkunst gesetzt. Wer nun zum Einweihungsfest nicht geladen war, der konnte und kann sich auch heute noch ein Bild machen: In der begleitenden Publikation „Auf eigene ART. Das neue Thomas-Mann-Haus am Münchner Herzogpark“ (München 2006) präsentiert Schreier die Werke zwölf hier ausstellender zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler.

Sieht man sich den Begleitband näher an, so kann man jedoch eines festhalten: In der Münchner Ausstellung fand keine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit Leben und Werk Thomas Manns und seiner Familie statt. Nicht etwa weil die gezeigten Werke einem qualitativen Vergleich nicht standhielten. Ein solcher wäre angesichts der Ferne der beiden Welten ohnehin wenig sinnvoll. Vielmehr bereitet schon die Abkehr vom Buch und die ostentative Hinwendung zu demjenigen Ausdrucksmedium, das Thomas Mann Zeit seines Lebens am fernsten gestanden hat, nämlich die bildende Kunst, und noch dazu die zeitgenössische, den Boden für einen ungezügelten Wildwuchs subjektiver Assoziationen des Betrachters.


Kein Dialog mehr

Auf welche Art der Auseinandersetzung mit Tradition zielt man eigentlich ab, wenn man einem der letzten großen Erzähler der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Werken begegnen will, die das Diskursive gerade ad absurdum führen? So etwa in der grünen Farbexplosion Katharina Grosses, die dem Besucher als „sinnliche Provokation“ gleich im Eingangsbereich entgegenschlägt; oder in Olav Christopher Jenssens Palindromen, in denen ein „semantischer Super-GAU“ (Schreier, S. 54 f.) inszeniert wird: Den ins Bildmedium integrierten Buchstabenfolgen ist jeder überindividuell verbindliche Sinn abhanden gekommen. Ein wie auch immer gearteter Dialog zwischen alter und neuer Sphäre kann hier also gar nicht mehr stattfinden und es spricht vieles dafür, dass er das auch nicht soll.

Die Bonner Fotografin Renate Brandt, bekannt für ihre sehr persönlichen Portraits deutschsprachiger Schriftsteller, ist mit nur einem Exponat vertreten: Mann in Grau (2001) zeigt einen rauchenden Mann mittleren Alters, der sich auf einem Stuhl sitzend vom Betrachter ab und der ornamentalen Tapete im Hintergrund zuwendet. Nach reiflicher Überlegung habe man sich  – so Schreier – dagegen entschieden, Portraits konkreter Persönlichkeiten von Dichtern und Essayisten „unter das Dach eines der ‚Überväter‘ der deutschen Literatur zu holen und damit – möglicherweise – eine Wirkungsgeschichte nahe zu legen, die im Einzelfall gar nicht stichhaltig gewesen wäre“. Stattdessen also eine Rückenfigur, „anonym“ und „unkommunikativ auf die eigene Welt bezogen“ (S. 63). Einen Dialog mit der Familie Mann kann und will freilich auch sie nicht eröffnen. Was bleibt, ist der Eindruck, dass es sich hier im besten Fall noch um eine Verlegenheitslösung handelt.

Vieles scheint dafür zu sprechen, dass jenem Kulturabend im Mai 2006 vor allem eine katalysatorische Funktion zukam. Schreiers Deutungen der Exponate in ihrem Ausstellungskontext lassen kaum Zweifel daran, dass hier in letzter Konsequenz der Geist des prominenten Vorbesitzers ausgetrieben werden soll. Die radikalsten künstlerischen Antworten auf den „noch immer auratischen Ort“ (S. 42) entsprechen durchweg der Killerphrase des ‚na und…‘, die der Pubertierende trotzig den Eltern entgegen schleudert und damit jeder Art von Verständigung die Grundlage entzieht.


‚Mit Verlaub, wir haben grade besseres zu tun!‘

Statt dessen wird Raum geschaffen für die Selbstinszenierung einer „genuss- und konsumorientierten jungen Generation zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ (S. 50). In Roland Schapperts Video-Beitrag Bar/Vegetation, sieht Schreier einen „idealen Spiegel des alten und des neuen Thomas-Mann-Hauses und seiner Bewohner“: „Inzwischen hat eine neue, ökonomisch erfolgreiche Generation Einzug in die Villa am Herzogpark gehalten und ihr Lebensstil ist demjenigen der sich in Schapperts Video andeutet, vielleicht gar nicht so fern“ (S. 51). Wären Thomas Mann und die Seinen zum Einweihungsabend ihrer soeben wiedererstandenen alten „Poschi“ erschienen, dann hätten sie vermutlich folgendes zu hören bekommen: ‚Bleibt lieber draußen, ihr versteht uns sowieso nicht!‘ (Grosses Farbexplosion), ‚Sprecht uns  bloß nicht an!‘ (Brands Mann in Grau) und ‚Jetzt wohnen wir hier und wir haben – mit Verlaub – gerade besseres zu tun‘ (Schapperts junges Paar).

Schreiers Interpretationen der weniger radikalen Antworten hingegen wirken überwiegend  harmlos, ja teils an den Haaren herbeigezogen, etwa wenn er bei Gudrun Kemsa einen „stimmungshaften Verweis“ auf Thomas Manns „berühmte Erzählung“ Tonio Kröger diagnostiziert, den die Künstlerin bei der Konzeption der Arbeit „sicher nicht intendierte“, der im Kontext der Ausstellung aber „unwillentlich wirksam wird“ (S. 47). Und in Dieter Mammels Gemälde Der Spaziergang ein Abbild der autoritären Vater-Kind Beziehung zu sehen, wie sie auch die Lebenswirklichkeit des Patriarchen Thomas Mann und seiner Familie kennzeichnete, ist in etwa so originell, wie wenn man in einer modernen Soap ein Liebespaar ausfindig machte.


Wie hoch ist der Preis?

Nun lässt sich über Geschmack bekanntlich streiten. Gefallen an den Provokationen moderner Kunst einerseits wie auch am Werk eines klassischen Schriftstellers andererseits kann man weder sich selbst noch anderen verordnen. Was Thomas Mann betrifft, so gab und gibt es sicherlich immer noch Generationen von Lesern, die nie einen wirklichen Zugang zu seinem Werk gefunden haben und es steht zu befürchten, dass unter den nachwachsenden Generationen die Zahl derer eher noch steigen wird, die sich einer Auseinandersetzung mit der scheinbar fremden Welt eines literarischen Klassikers gar nicht mehr stellen wollen. Gerade materielle Formen der Erstbegegnung können hier aber oft sehr inspirierend wirken, wenn sie nur gut gemacht sind. In Schreiers Ausstellung sind wir Thomas Mann und den Seinen – und damit auch unserer eigenen Vergangenheit – jedenfalls nicht begegnet. Sie hält uns allenfalls einen Spiegel vor. Was wir da sehen? Eine Fassade. Und dahinter? Den Machbarkeitswahn und die autistische Selbstbezogenheit einer unerwachsenen Gesellschaft. Zu Recht muss man hier fragen, ob es vernünftig ist, die Verantwortung für kulturelles Erbe an Privatpersonen zu delegieren und welcher Preis im Zweifelsfall dafür zu bezahlen ist.

Der Kulturabend vom Mai 2006 scheint jedenfalls einmalig geblieben zu sein. Der Begleitband ist inzwischen vergriffen und wird nicht mehr aufgelegt.

Wer auf eigene Art einem Beispiel folgt, kann starke Formen der Rezeption begründen. Es kann aber auch schiefgehen. Dann hat sich der Genius des Vorbildes am Ende als stärker erwiesen.



Vom Umgang mit ‚Rechtsschändern‘

In der Debatte um die Tötung von Terroristenführer Osama bin Laden und inwieweit diese mit einer christlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sei, wird immer wieder auf den Widerstand gegen das Naziregime und das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 verwiesen. Tenor: Man habe es sich damals nicht leicht gemacht, aber schlussendlich die Ermordung für notwendig und legitim erachtet. Deshalb ist die Tötung bin Ladens erst recht legitim.

So diskutiert etwa Jörg Kürschner, MDR-Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio, in seinem Kommentar die Frage: „Ist der Tyrannenmord an Osama Bin Laden vertretbar?“ und verweist dabei auf das Beispiel des Hitler-Attentats: „Der Kreisauer Kreis um Stauffenberg hat versucht, diesen Tyrannen zu ermorden“.

Tatsächlich waren es die führenden Köpfe des sog. Kreisauer Kreises, insbesondere Helmuth James von Moltke, die ein Attentat ablehnten. Erst nach der Verhaftung Moltkes im Januar 1944, infolge derer sich der Kreisauer Kreis faktisch auflöste, schlossen sich einige Kreisauer der Stauffenberg-Gruppe an. Moltke, hochgebildet und tiefreligiös, Jurist und speziell Völkerrechtler, lehnte im Gegensatz etwa zu dem Protestanten Dietrich Bonhoeffer einen gewaltsamen Putsch ab, da er einerseits die Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende sah und andererseits überzeugt davon war, dass gerade „Gewalttätigkeit das Grundübel nicht beheben“ könne (vgl. dazu Beate Ruhm von Oppen, Briefe an Freya 1939 – 1945, Biographie, S. 53).

Der Kreisauer Kreis war eine Gruppe des bürgerlichen Widerstands, der auch wichtige Kirchenmänner angehörten und die sich intensiv und detailliert mit der politisch-gesellschaftlichen Neuordnung nach der Diktatur, von deren absehbarem Zusammenbruch sie fest überzeugt waren, befassten. „Vor allem anderen war ihnen die Erneuerung der moralisch-ethischen Maßstäbe wichtig. Sie waren sich darin einig, daß ohne metaphysische Dimension weder das Individuum noch die Nation leben könnte.“ fasst Marion Gräfin Dönhoff die Gesinnung des Kreisauer Kreises zusammen (in: „Zivilisiert den Kapitalismus“, S. 205). Wie zukunftsweisend die Kreisauer dachten, zeigt sich bereits in dem großen Stellenwert, den sie – schon damals – Europa als einem zukünftig föderalen Europa mit einheitlicher Währung beimaßen.

Ein weiteres wesentliches Thema, das die Kreisauer für die Neuordnung der Gesellschaft erörterten, war die Bestrafung von Rechtsschändern (statt: „Verbrechern“). In einem 1943 entworfenen Dokument hielten sie fest:

„Als Rechtsschänder ist zu bestrafen, wer wesentliche Grundsätze des göttlichen oder natürlichen Rechts, des Völkerrechts oder des in der Gemeinschaft der Völker überwiegend übereinstimmenden positiven Rechts in einer Art bricht, die erkennen läßt, daß er die bindende Kraft dieser Rechtssätze freventlich mißachtet. Rechtsschänder ist auch, wer den Befehl zu einer rechtsschändenden Handlung gibt, in verantwortlicher Stellung dazu auffordert oder allgemeine Lehren oder Weisungen rechtsschändender Art erteilt. […]“ (vollständig nachzulesen hier).

Diese vom Kreisauer Kreis erdachten Grundsätze lenken den Blick durchaus wieder kritisch auf Obama, wenn er tatsächlich den Befehl zur Exekution bin Ladens gegeben hat.

„Bei einer auf Befehl begangenen Rechtsschändung ist der Befehl kein Strafausschließungsgrund es sei denn, daß es sich um eine unmittelbare Bedrohung von Leib oder Leben des Täters handelt oder ein sonstiger Zwang vorliegt, der nach den näheren Umständen die Befolgung des Befehls nicht als offenkundig unsittlich erscheinen läßt. “

Den aktuellen Presseberichten zufolge, scheint festzustehen, dass bin Laden entgegen der ersten Darstellungen der Amerikaner doch unbewaffnet war und auch keine menschlichen Schutzschilde eingesetzt hat. Zu diskutieren wäre danach allenfalls der „sonstige Zwang“ als Rechtfertigungsgrund für die Tötung bin Ladens und dazu ist deren genauer Ablauf von entscheidender Bedeutung.

So einfach lässt sich der „Tyrannenmord“ also nicht rechtfertigen – jedenfalls nicht, wenn man sich auf den Kreisauer Kreis beziehen will.