Post-Privacy

Jonathan Franzen über Privatsphäre und öffentliche Sphäre

„Die vernetzte Welt eine Bedrohung der Privatsphäre? Sie ist das hässliche Schaustück einer auftrumpfenden Privatspäre.“ (J. Franzen)

Google Street View, der großangelegte Datenklau bei Sony, das Sammeln der iPhone-Bewegungsdaten durch Apple – kaum vergeht eine Woche ohne einen neuen Datenskandal, begleitet von einer öffentlichen Debatte um Privatsphäre und Datenschutz. Spätestens seitdem hierzulande die „datenschutzkritische Spackeria“ mit ihren provokanten Post-Privacy-Thesen auf der netzpolitischen Bühne aufgetaucht ist, ist eine neue Diskussion um das Spannungsfeld zwischen Privatspäre und Öffentlichkeit entbrannt.

Mich hat das an einen Essay des amerikanischen Romanciers Jonathan Franzen aus dem Jahr 1998 erinnert. Der Text „Riesenschlafzimmer“ (original „Imperial Bedroom“) erschien einige Jahre später in dem Band „Anleitung zum Alleinsein“ und scheint von zeitloser Aktualität zu sein, wenngleich Franzen im Vorwort einräumt, „Riesenschlafzimmer“ sei entstanden, „bevor John Ashcroft mit seiner offenkundigen Gleichgültigkeit gegenüber Persönlichkeitsrechten Justizminister wurde“. Dieser Einzelaspekt wiege jedoch geringer, als das dem Buch „zugrunde liegende Thema: die Schwierigkeit, in einer lärmenden und zerstreuenden Massenkultur Individualität und Vielschichtigkeit zu bewahren: die Frage, wie Alleinsein geht.“

Und so setzt sich Franzen, bekannt für seine schneidenden und niemals polemischen Gesellschaftsanalysen, in „Riesenschlafzimmer“ mit der überraschenden Forderung nach mehr öffentlichem Raum auseinander. Nicht die obsessiv verfochtene Privatspäre sei bedroht („Wir ertrinken geradezu in Privatspäre“), sondern vielmehr der öffentliche Raum – durch das permanente, ungenierte Hineintragen des Privaten. Ein wirklich öffentlicher Raum sei der, „wo jeder Bürger willkommen und das rein Private entweder ausgeschlossen oder zurückgedrängt ist.“ – wie bspw. beim Besuch eines Kunstmuseums, wo dreister Konsumismus absent, Anstand und Stille hingegen vorgeschrieben seien. Stattdessen jedoch werde man in der Öffentlichkeit fortlaufend mit dem Privaten belästigt, vom Redenschwinger im Bus, über die Handy-Telefonierer in der Supermarktschlange bis hin zu massivsten Entblößungen im Fernsehen, die uns noch im Wohn- und Schlafzimmer ereilen, wo das Fernsehen freilich selbst zur Schlafzimmerbühne werde.

Gleichzeitig lenkt Franzen den Blick darauf, wie Menschen in den westlichen Industrienationen heute in der Regel leben können. Es möge zwar sein, dass sich Regierungen in manchen Bereichen stärker einmischten als das noch vor hundert Jahren der Fall gewesen sei. Nichtsdestotrotz seien wir den Einmischungen der damaligen Kleinstadtschnüffeleien nicht mehr annähernd so stark ausgesetzt, wie die Generationen vor uns. Vielmehr hätten sich die Möglichkeiten privater Rückzugsräume vervielfacht. Selbst die Fortbewegungsmittel seien weitgehend privat. Kurzum: Das historisch auf Louis Brandeis zurückgehende „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“, werde insgesamt „nicht ausgehöhlt, es explodiert“.

Das Öffentliche ist das Gemeinsame und das Private das Eigene. Beide bedingen sich, beide brauchen einander in ausgeglichener Weise und zwischen beiden verläuft dennoch eine sensible Grenze. „Deshalb ist die Verletzung des öffentlichen Raums, vom Empfinden her, der Verletzung der Privatsphäre ganz ähnlich“, findet Franzen.

Und deshalb ist das Bedürfnis nach Öffentlichkeit ebenso grundlegend wie das nach Privatsphäre, ohne die die Entwicklung von Individualität nicht gelingt. Franzen meint jedoch stets eine Öffentlichkeit, in der das Private sich zurücknimmt, und nicht eine Öffentlichkeit, derer man sich im Übermaß bedient, um persönliche Eitelkeit zu nähren.