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Auf den Spuren der Gräfin

„Ich muss an die letzte Konfirmation in der kleinen Dorfkirche in Quittainen denken. Da standen acht Mädchen in weißen Kleidern und sechs Jungen im ersten blauen Anzug. Ich sah sie nur durch einen Schleier, denn mir wurde plötzlich ganz klar, daß keiner dieser Jungen – wie doch alle ihre Väter – noch einmal vor diesem Altar stehen würden und dass es das Los der meisten dieser kleinen Mädchen sein werde, allein zu bleiben. […] Und draußen vor der Kirche lagen Soldaten in der Sonne und warteten. Warteten, bis sie schließlich am 21. Juni zum Marsch gegen Rußland antreten. Seither nimmt man eigentlich immerfort Abschied, nicht nur von Menschen – von allem, was man liebt: den Wegen, die wir oft geritten sind, den Bäumen, unter denen wir als Kinder spielten, der Landschaft mit ihren Farben, Gerüchen, Erinnerungen.“

(Kwitajny im Juni 2011)

Dies hielt die 31-jährige Marion Dönhoff 1941 während eines mehrtägigen Ritts durch ihre Heimat Masuren fest. Im Januar 1945 wird Quittainen der Ort sein, von dem aus die junge Gräfin und letzte Gutsherrin des Dönhoffschen Besitzes in Ostpreußen nachts, bei über 20 Grad minus, mit ihren Leuten die Flucht vor den Russen gen Westen antritt.


Aus Quittainen wurde Kwitajny

Die kleine, 1714 – 1719 errichtete Kirche gibt es immer noch. Der Ort heißt heute Kwitajny, so wie aus Elbing Elblag, aus Marienburg Marbork und aus Allenstein Olsztyn geworden ist. Das Gut in Quittainen existierte schon zur Ordenszeit im 13. Jahrhundert. Gutsanlage und Gutsdorf zählen zu den ältesten Dörfern in diesem Gebiet und gelangten 1744 in den Besitz der Grafen von Dönhoff. Herrenhaus und Dorf – nicht jedoch zahlreiche der damaligen Bewohnerinnen und Bewohner – haben den Krieg fast unversehrt überstanden, während der Dönhoffsche Hauptsitz, Schloss Friedrichstein in der Nähe von Königsberg, dem heute russischen Kaliningrad, von der Roten Armee restlos zersört wurde.

„Beachtenswert ist die sehr gut erhaltene Architektur des Gutsdorfs. Es sind schöne eingeschossige Bauten aus rotem Backstein mit Satteldach […].Vor den Häusern befinden sich Naturteiche und in der Nähe des Herrenhauses die […] Barockkirche. Der gesamte Gutskomplex, eingebettet in einem weiten Tal zwischen Wiesen und Feldern, hat außergewöhnlich gut die Merkmale einer historischen Dorflandschaft beibehalten, die durch den Großgrundbesitz geprägt wurde.“ (in: Schlösser und Gutshäuser im ehemaligen Ostpreußen, Malgorzata Jackiewicz-Garniec und Miroslaw Garniec, S. 81).


Vieles ist noch erhalten

Wer Kwitajny besucht, wird überrascht sein von der schlichten und zugleich stolzen Präsenz des Dorfes. Seine Geschichte zeigt der Ort mit einer ähnlich hochmütigen Bescheidenheit wie Marion Dönhoff die ihre. Lange nicht jeder Reiseführer weist überhaupt auf Kwitajny hin und im Dorf gibt es weder „Hinweisschilder“ noch öffentlich-museale Einrichtungen. Nein, der Ort ist einfach da, in einer melancholisch-erhabenen Mischung aus gestern und heute. Neben der kleinen Kirche ist noch einiges mehr des historischen Gutsdorfs erhalten. Das ehemalige Herrenhaus wurde privat saniert, das daneben liegende ehemalige Rentamt, in dem sich Rentmeisterin Marion Dönhoff in der Zeit des Zweiten Weltkriegs einrichtete, ist hingegen verfallen, jedoch noch vorhanden. Ebenfalls verfallen, aber noch zugegen, ist die große landwirtschaftliche Gutsanlage mit den ehemaligen Stallungen und Speichern – umrahmt mit Verbotsschildern: Kein Zutritt, Einsturzgefahr. Von der Anlage geht eine gespenstische Atmosphäre aus, die von der friedlich anmutenden Stimmung des Dorfes mit seinen Teichen wieder aufgefangen wird.

(Kwitajny im Juni 2011)
Umgeben ist der Ort von weiten Ländereien, sicherlich ebenfalls alle ehemals unter Dönhoffscher Leitung. Marion Dönhoff, tüchtig wie eh und je, war damals von früh bis spät auf den Beinen und kümmerte sich um die einzelnen Güter, Werkstätten, Feld- und Waldwirtschaft. Innerlich sieht man die junge Gutsherrin auf ihrem Pferd über die Felder reiten. „Wer je auf dem Rücken eines edlen Pferdes im Slalom um die aufgestellten Getreidehocken über die herbstlichen Stoppelfelder galoppierte, der wird nie etwas anderes seine Heimat nennen als Ostpreußen.“, so die Gräfin später.


Im Chaos der Kriegsfurie

Doch man stellt sich stets auch die sich zusammen rottenden, verzweifelten Menschen in jener Nacht vor, als sie einen Treck bilden und das Dorf im Chaos der Kriegsfurie verlassen mussten. Man schaut eine aus dem Ort hinaus führende Straße entlang und sieht sie vor sich: die Wagen, Pferde und bepackten Menschen mit Handwagen, die „ohne Ziel und Führung hinaus in die Nacht“ ziehen. Die Haustüren bleiben unverschlossen, die Tore der Stallungen geöffnet, damit das Vieh hinaus und in den Speichern Futter finden kann. Wenige Kilometer entfernt sind schon die Kanonendonner der Roten Armee zu hören.

Tief berührt, ja demütig, blinzelt man wieder in die Sonne, die dann und wann zwischen den masurischen Wolken über dem heute so friedlichen, bescheidenen – und doch wissenden – Kwitajny liegt.

1962 schreibt Marion Dönhoff:

„Ich muss noch einmal – zum letzten Mal – hier die Namen der Gutshöfe niederschreiben, alle diese schönen Namen, die nun keiner mehr nennt, damit sie wenigstens irgendwo verzeichnet sind: Quittainen, Comthurhof, Pergusen, Weinings, Hartwigs, Mäken, Skolmen, Lägs, Amalienhof, Schönau, Groß Thierbach, Klein Thierbach, Nauten, Canditten, Einhöfen“.

Quittainen  – Kwitajny sei hiermit einmal mehr genannt.


Literatur

  • Marion Gräfin Dönhoff: Namen die keiner mehr nennt.
  • Malgorzata Jackiewicz-Garniec und Miroslaw Garniec: Schlösser und Gutshäuser im ehemaligen Ostpreußen.
  • Alice Schwarzer: Marion Dönhoff. Ein widerständiges Leben.
  • Tatjana Gräfin Dönhoff und Jo Röttger: Weit ist der Weg nach Westen. Auf der Fluchtroute von Marion Gräfin Dönhoff.